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Senioren-Zocken
Ein Hamburger Start-up hat Videospiele für Senioren entwickelt. Die Idee dahinter: Kegeln, Motorradfahren und andere Aktivitäten am Bildschirm sollen älteren Menschen helfen, körperlich und geistig länger fit zu bleiben – und gemeinsam Spaß zu haben.
Mittwochmorgen im Malteserstift St. Bonifatius in Essen. Auf der Station für Schlaganfallpatienten hat Sozialarbeiter Muris Podrug in der Küche die Stühle zur Seite geschoben, Tische zusammengerückt und einen Fernseher sowie eine kleine Box daraufgestellt, die sogenannte MemoreBox. Etwa zwei Meter davor hat sich Gabriele M. mit ihrem Rollstuhl positioniert. „So stehen Sie gut“, sagt der Avatar auf dem Bildschirm. „Wenn Sie beginnen möchten, dann heben Sie jetzt eine Hand.“ Die 60-Jährige folgt der Aufforderung, holt leicht mit dem rechten Arm aus und führt ihn wieder nach vorne. Eine Kamera über dem Fernseher registriert die Bewegung, schon rollt die Kugel über die Kegelbahn auf dem Bildschirm. Gabriele M. trifft drei Kegel. Ganz zufrieden scheint sie nicht. An Muris Podrug gewandt, fragt sie: „Guckst du mal nach, ob ich noch Erste bin?“
Leichte Bedienung, wenig Reize
Es gibt viele Angebote im Malteserstift, mit denen Muris Podrug und seine Kollegen Abwechslung in den Alltag der Bewohner bringen. Auf dem Wochenplan stehen unter anderem Gedächtnistraining, Gesprächskreis, Frühschoppen und Bingo. Seit Herbst 2016 ist auch die MemoreBox ein fester Programmpunkt. „Wir hatten es zuvor mit einer anderen Spieleplattform versucht. Sie funktionierte mit einer Fernbedienung. Viele unserer Bewohner konnten damit nicht umgehen“, erzählt Muris Podrug.
Bei der MemoreBox ist das anders. Das Hamburger Start-up RetroBrain R&D – gegründet von sechs Wissenschaftlern aus den Bereichen Medizin, Soziologie, Game-Design und Wirtschaftswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München – hat die Spielekonsole eigens für Senioren entwickelt. Deshalb braucht es für die Steuerung keine Handkonsole; mal reicht eine Bewegung des Arms, mal ist der ganze Oberkörper gefragt. Anders als bei herkömmlichen Videospielen kommen Sound und Grafik sehr zurückhaltend daher.
Musik verbindet
Das heißt nicht, dass Musik bei der MemoreBox keine Rolle spielt. „Musik ist ein Element, das jeden mitnimmt“, meint Manouchehr Shamsrizi, einer der Gründer von RetroBrain. „Manch einer, der keine Lust hat, mitzuspielen, summt auf einmal eine vertraute Melodie mit – und ist damit Teil der Gruppe.“
Kein Wunder, dass die Entwickler der MemoreBox nicht auf Technomusik setzen. Stattdessen hört man in der Küche des Malteserstifts St. Bonifatius in Essen den alten Zarah-Leander-Song „Kann denn Liebe Sünde sein“. Vor Ort ist auch Günther D.: „Hau rein, dass die Heide wackelt“, ruft er immer wieder. Dieses Anfeuern, das Miteinander ist ein wichtiger Aspekt der MemoreBox. „Statt auf ihren Zimmern im Bett zu liegen, erleben unsere Bewohner Gemeinschaft. Das und die Erfolge beim Spielen stärken ihr Selbstvertrauen“, erzählt Sozialarbeiter Muris Podrug. Gut zu wissen, dass man bei der MemoreBox nicht verlieren kann. Im Gegenteil: Die Anforderungen passen sich dem Können der Spieler an.
Spielerisch Körper und Geist trainieren
Ganz nebenbei trainieren die Senioren beim Kegeln, Motorradfahren, Tischtennisspielen oder wenn sie als Postbote durch die virtuellen Straßen radeln und Zeitungen in die Briefkästen werfen, Muskeln, Koordination und Reaktionsvermögen. Gabriele M., die vor ihrem Schlaganfall Marathon gelaufen ist, erzählt: „Anfangs habe ich mir beim Kegeln sogar einen Muskelkater geholt.“ Verschiedene Elemente fördern darüber hinaus kognitive Fähigkeiten. Auf dem Motorrad gilt es zum Beispiel, Denkaufgaben zu lösen, um von A nach B zu kommen. Manouchehr Shamsrizi erklärt: „Eine Grundidee von RetroBrain ist es, das Medium Spiel für therapeutische Konzepte zu nutzen.“ Der Sozialwissenschaftler spricht in diesem Zusammenhang viel vom Homo ludens. „Therapie- und Präventionsangebote appellieren bisher meist an die Vernunft, nach dem Motto: ‚Du weißt doch, dass Bewegung gut für dich ist.‘ So funktionieren wir Menschen aber nicht. Wir setzen mit der MemoreBox auf den Spieltrieb. Wir wollen, dass die Menschen sich bewegen, weil es ihnen Spaß macht. Der positive Nutzen stellt sich dann von allein ein.“
Studien testen Wirksamkeit
Das Interesse an der MemoreBox ist groß. Nicht nur die Malteser nutzen sie bundesweit, auch bei den Johannitern wird schon virtuell gekegelt und Motorrad gefahren.
Darüber hinaus laufen verschiedene Studien, zum Beispiel in einem Modellvorhaben der Barmer im Hospital zum Heiligen Geist in Hamburg und im Evangelischen Johannesstift Berlin. Beide zählen zu den größten Alten- und Pflegeheimen in Deutschland. Seit dem Jahr 2016 evaluiert die Krankenkasse dort – erstmals nach der Einführung des neuen Präventionsgesetzes – zusammen mit der Humboldt-Universität zu Berlin die Wirksamkeit der digitalen Technik auf die körperliche und geistige Gesundheit. Erste Ergebnisse sind vielversprechend.
Die MemoreBox und ihre Geschichte
Die Idee zur MemoreBox entstand im Privaten: „Bei einem Freund gab es einen Demenzfall in der Familie“, erzählt Manouchehr Shamsrizi. „Das, was wir in diesem Zusammenhang in den Pflege- und Altenheimen gesehen haben, war an vielen Stellen frustrierend. Für eine intensive Betreuung fehlt dem Personal häufig Zeit, viele Senioren sind zu wenig aktiv.“ In seinem Studium hatte sich der Sozialwissenschaftler Shamsrizi bereits mit den Themen Generationengerechtigkeit und Pflegenotstand beschäftigt, zudem arbeitete er in einer Forschungsgruppe, die selbst Videospiele entwickelt. „Da stellten wir uns die Frage, ob die digitale Technik dazu beitragen kann, dass Menschen länger fit bleiben.“ Das interdisziplinäre Forschungsteam erarbeitete ein Konzept. Die Rudi-Assauer-Stiftung würdigte es Ende 2013 als „innovativen Ansatz in der stationären Pflege für Demenzerkrankte“. Spätestens da wussten die jungen Forscher, dass sie an ihrer Idee dranbleiben müssen.
Präventionsgesetz
Das neue Präventionsgesetz trat Anfang 2016 in Kraft. Zu den Zielen gehört, präventive Angebote für pflegebedürftige Menschen anzubieten, um deren Lebensqualität zu verbessern.
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